Flucht und Duldung aus traumapsychologischer Perspektive

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Ein Mensch flüchtet nach Deutschland. Seine Beweggründe dafür können vielfältig sein, in den allermeisten Fällen handelt es sich aber um existenzielle Nöte und Gefährdungslagen. Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen, vor persönlichen Bedrohungen, vor Diskriminierungen, vor Verfolgung, vor einer fehlenden Existenzgrundlage, vor Chancenlosigkeit. All diese Gründe haben eines gemeinsam. Sie stellen eine existenzielle Gefährdung dar, eine Bedrohung des eigenen Lebens und des Lebens der Familie.
Was tut ein Mensch aus psychologischer Sicht, wenn er sich in einer Bedrohungslage befindet, in der es um sein Überleben geht? Dazu kann man das traumapsychologische Modell des „Fight – flight or freeze“ heranziehen. Dieses Modell besagt, dass ein Mensch, der in eine solche Bedrohungslage gerät, drei Möglichkeiten hat zu reagieren. Dabei können die unterschiedlichen Reaktionsvarianten sich auch gegenseitig ergänzen, insbesondere die beiden Möglichkeiten kämpfen und fliehen.
Der Mensch wägt ab, wie die Kraftverhältnisse zwischen dem Angreifer und ihm, dem Angegriffenen sind. Der Angreifer übrigens muss nicht unbedingt personifiziert auftreten, er kann auch durch das Ausgeschlossenwerden aus gesellschaftlichen Bezügen im Rahmen einer Diskriminierung dargestellt werden. Wenn der angegriffene Mensch sich stärker als der Angreifer einschätzt, wird er kämpfen. Schätzt er sich selbst als schwächer ein, wird er flüchten. Insbesondere bei einer chronischen Bedrohungslage wie kriegerischen Auseinandersetzungen, politischer Verfolgung, anhaltender Diskriminierung und Ausgrenzung werden die Reaktionsmuster situationsabhängig immer wieder neu kombiniert und verselbstständigen sich.
Eine diagnostizierbare Traumafolgestörung entsteht besonders dann leicht, wenn der Mensch weder fliehen, noch kämpfen kann. Dann bleibt nur noch die Reaktion „erstarren“, die je nach Situationskontext wortwörtlich und körperlich eintreten kann, am ehesten bei einem akuten körperlichen, lebensgefährlichen Angriff oder Unfall.
Wann diese Erstarrung noch eintreten kann, wird im weiteren Verlauf näher aufgeschlüsselt. Grundsätzlich sind für die Ausbildung und den Erhalt von Traumafolgesymptomen immer  die Bedingungen ausschlaggebend, unter denen das jeweilige Ereignis oder die Ereignisse verarbeitet werden müssen. Beispielsweise kann soziale Unterstützung die Wahrscheinlichkeit einer Traumafolgestörung senken.

Duldung und Trauma

Was hat nun der Status der Duldung damit zu tun? Dazu müssen zwei Konstellationen beziehungsweise Gruppen unterschieden werden. Die erste Gruppe besteht aus den Menschen, die potenziell traumatische Erfahrungen im Herkunftsland oder auf der Flucht so verarbeiten konnten, dass bei ihnen keine Traumafolgesymptomatik festgestellt werden kann und solche Menschen, denen kein potenziell traumatisierendes Ereignis widerfahren ist. Wobei wiederum zu beachten ist, dass die allermeisten Menschen auf der Flucht potenziell traumatische Erfahrungen machen. Gleichzeitig  bilden jedoch nicht alle Menschen eine Traumafolgesymptomatik aus, was beispielsweise von persönlichen Veranlagungen oder den bereits oben genannten sozialen Bedingungen abhängt.
Die zweite Gruppe sind diejenigen Menschen, die im Herkunftsland und oder auf der Flucht traumatisierende Erfahrungen gemacht haben aufgrund derer sie unter Symptomen leiden (zum Beispiel Wiedererleben, Albträume, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, innere Unruhe, Schreckhaftigkeit, Angstzustände, körperliche Übererregbarkeit, Niedergeschlagenheit oder Depression, Hoffnungslosigkeit). Auch hier ist anzumerken, dass es bei vielen Menschen durchaus belastende Symptome gibt, die jedoch für eine tatsächliche Krankheitsdiagnose nach einer der gängigen Klassifikationssysteme (wie beispielsweise das ICD 10) zu unvollständig oder zu schwach ausgeprägt sind. Unabhängig von der Einteilung in diese zwei Gruppen muss die Lebensrealität betrachtet werden, die mit dem Status der Duldung zusammenhängt.
Im Status der Duldung gibt es keine Sicherheit. Das angegebene Gültigkeitsdatum hat keinerlei Aussagekraft, da eine Abschiebung auch im Zeitraum der Gültigkeit durchgeführt werden kann. Das Papier wird ungültig, sobald die Abschiebung durchgeführt werden kann. Der Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland wird durch den Zusatz „ist ausreisepflichtig“ illegalisiert. Bei jeder Aufforderung, sich auszuweisen, wird der betroffene Mensch durch den Hinweis auf seine Ausreisepflicht, der er offensichtlich nicht nachgekommen ist, stigmatisiert.  Diese Stigmatisierung wird durch den roten Balken auf der Vorderseite des Papiers auch für diejenigen sichtbar, die sich noch nicht einmal die Mühe machen wollen, sich das Papier näher anzuschauen.
Das Duldungspapier ist darüber hinaus ein Instrument zur Sanktionierung, zum Druckaufbau durch die „Ausländerbehörde“, beispielsweise bei der Erteilung einer Arbeitserlaubnis. Im Rahmen des Ermessensspielraums ist es so möglich, zwei völlig unterschiedliche Lebensrealitäten für Menschen zu schaffen. Für die Betroffenen bedeutet dies ein erneutes Ausgeliefertsein an eine in dieser Konstellation mächtigere Person. Der psychische Druck kann zu einer massiven Beeinträchtigung der Gesundheit führen. Potenziell traumatische Erfahrungen, bei denen es bereits eine übermächtige Kraft gab, die Schaden zufügte, wiederholen sich.
Für Menschen, die an Traumafolgesymptomen leiden, stellt der Status der Duldung eine sehr schlechte Basis zur Behandlung oder Verarbeitung der Traumafolgen dar. Eine Verschlechterung der Symptome ist zu erwarten, außerdem geht die Duldung mit einer erhöhten Gefahr der Chronifizierung der Symptome einher. Das Duldungspapier stellt ein inhumanes Spielzeug des Bürokratieapparates dar.
Ein nicht zu vernachlässigender Faktor ist die Unfähigkeit, gegen den Status der Duldung vorzugehen. Ein Rechtsanwalt kann beauftragt werden, um gegen die Ablehnung des Asylantrags zu klagen. Ein Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis kann je nach Einzelfall nach dem Ablauf einer entsprechenden Zeitspanne bei der „Ausländerbehörde“ gestellt werden. Es werden Aufträge erteilt, jedoch ist es für den Betroffenen kaum oder gar nicht möglich, selbstständig aktiv zu werden, sich selbst aus der Gefahrenzone zu befreien und sich selbstständig eine sicherere Basis im Sinne einer Aufenthaltserlaubnis zu erarbeiten. Die Ausstellung des Duldungspapiers stellt eine existenzielle Bedrohung für die betroffene Person dar, da sie in ständiger Gefahr schwebt, ihre aktuellen Lebensbezüge nach dem bereits stattgefundenen Verlust erneut zu verlieren. Bei gleichzeitiger Beleuchtung der Möglichkeiten des betroffenen Menschen, an diesen Umständen etwas zu verändern, kommt man unweigerlich zu dem erschreckenden und ernüchternden Schluss, dass eine Parallele zur traumatischen Freeze-Situation entsteht und somit die klare Gefahr einer Retraumatisierung gegeben ist, einer chronischen Retraumatisierung, da jegliche Sicherheit fehlt.

Trauma und Anhörung für den Asylantrag

Besonders für schwer traumatisierte Menschen ist es kaum möglich, die traumatischen Erfahrungen zu schildern. Wenn diese Unfähigkeit bewusst abläuft, kann einer der Gründe Scham sein. Die Interviewsituation findet mit einem völlig Unbekannten in einer völlig fremden, beängstigenden Situation statt. Jedem Menschen, der Asyl begehrt, ist klar, dass die kurze Zeitspanne des Interviews über sein Begehren entscheiden wird. Der dadurch ausgelöste Druck kann sogar bei Menschen ohne Traumatisierung, die Fähigkeit strukturiert zu berichten, blockieren. Die standardisierten Nachfragen verhindern darüber hinaus das Gefühl, einen mitfühlenden Ansprechpartner zu haben, dem man sich gegebenenfalls anvertrauen könnte.
Im Rahmen der Posttraumatischen Belastungsstörung kann es außerdem zu Amnesien kommen, durch welche bestimmte Sachverhalte teilweise oder komplett nicht erinnert werden können. Auch wenn keine diagnostizierbare Amnesie vorliegt, ist es möglich, dass die traumatischen Erfahrungen unbewusst verdrängt werden. Die menschliche Psyche verfügt über diverse Mechanismen, einem Menschen nach einer traumatischen Erfahrung zunächst das Weiterleben zu ermöglichen. Im Asylverfahren werden alle diese Mechanismen zu Fallen, die über das Ergebnis des Asylantrags entscheiden können.
Zählt man diese Sachverhalte zusammen, kommt man zu dem erschreckenden Ergebnis, dass oft diejenigen Menschen, die schon schwer traumatisiert sind, wenn sie in Deutschland Schutz suchen, die Ablehnung ihres Asylantrags erfahren und somit eine Duldung erhalten. Bis das Wiederaufgreifens-verfahren beim Bundesamt überhaupt erst begonnen werden kann, vergehen oft Monate und Jahre, da ein neues Beweismittel benötigt wird, wie beispielsweise das Attest oder Gutachten eines Facharztes, der eine Traumafolgestörung beschreibt. Zu beachten ist, dass  viel Zeit vergehen kann, bis eine unterstützende Person eine Traumatherapie vorschlägt, bis im nächsten Schritt ein Therapieplatz frei wird und die Finanzierung der Therapie geklärt ist. Bis dann in der Therapie die traumatischen Erfahrungen zur Sprache kommen können, vergeht oft noch einmal eine längere Zeit. Wenn dann der behandelnde Arzt oder Therapeut ein Attest schreibt und der Wiederaufgreifensantrag beim Bundesamt durch einen Rechtsanwalt eingereicht wird, vergehen ab diesem Zeitpunkt Monate und Jahre, bis ein erneuter Bescheid des Bundesamts erwartet werden kann.
In diesen Jahren der fehlenden Sicherheit chronifizieren sich traumatische Muster und entstehen zusätzliche Erkrankungen auf dem Boden der deutlich hoch gesetzten Vulnerabilität durch die Traumafolgestörung. Einem betroffenen Menschen wird somit das Recht auf Gesundung und Gesundheit genommen.

Duldung und Gesundheit

Um noch einmal auf die zu Beginn gemachte Unterscheidung der geflüchteten Menschen zurückzukommen, gibt es neben den Menschen mit Traumafolgesymptomen auch diejenigen Menschen, die keine beachtlichen Störungen des psychischen Gesundheitszustands aufweisen. Wenn diese Menschen eine Duldung erhalten, sind sie zunächst einmal weniger gesundheitlich gefährdet als diejenigen Menschen mit einer Traumafolgestörung.
Aber auch gesunde Menschen können krank gemacht werden. Die Lebensbedingungen, die mit dem Status der Duldung einhergehen, sind geprägt von existenzieller Unsicherheit, fehlender Planbarkeit der Zukunft, Perspektivlosigkeit, Stigmatisierung, Diskriminierung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Hilflosigkeit. Diese Faktoren begünstigen die Ausbildung einer psychischen Störung massiv und haben selbstverständlich auch Wechselwirkungen mit der körperlichen Gesundheit. Der Status der Duldung bedeutet ständigen Stress und dieser hat sehr gut belegte negative Konsequenzen auch auf die körperliche Gesundheit.
All diese Vorgänge finden im Rahmen von gültigem Gesetz und oftmals auf der Grundlage von Ermessensspielräumen und Gutdünken von Sachbearbeitern, die oft genug fachärztliche Atteste anzweifeln, statt. Aus fachlicher Sicht handelt es sich bei dieser Kombination um eine menschliche und medizinische Katastrophe, die aber von den entsprechenden Behörden und Gesetzgebern als Kollateralschaden toleriert oder sogar als Abschreckung für weitere potenzielle Asylsuchende gewollt ist.

Miriam Schmitz
Multikulturelles Zentrum Trier
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