Das Bremer Modell

[av_two_third first]

[av_image src=’https://www.multikulturelles-zentrum-trier.de/multi/wp-content/uploads/2016/03/sick-card-491711_960_720.jpg‘ attachment=’3753′ attachment_size=’full‘ align=’center‘ animation=’no-animation‘ styling=“ hover=“ link=“ target=“ caption=“ font_size=“ appearance=“ overlay_opacity=’0.4′ overlay_color=’#000000′ overlay_text_color=’#ffffff‘][/av_image]

[av_textblock size=“ font_color=“ color=“]

Krankenkassenkarte auch für Asylbewerber*innen
Das Bremer Modell

Die Allgemeine Zeitung Mainz berichtete im Juni 2015 von Elvis Music, einem Asylbewerber aus Bosnien, der nach monatelangen Schmerzen und beginnender Lähmung durch das DRK-Schmerzzentrum eine Bandscheibenoperation erhielt, dessen Kosten dieses ebenfalls übernahm. Im Artikel ist die Rede davon, dass die Behandlung aufgrund der gesetzlichen Gegebenheiten nicht vom Sozialamt übernommen werden könne. Dies ist schlichtweg falsch, da im Gesetz ausdrücklich von “Schmerzzuständen” die Rede ist. Auch wenn sich dieser Fall glücklicherweise für Elvis Music schnell und unbürokratisch lösen ließ, zeigt er doch, dass das System der Krankenscheine und deren Ausstellung durch die Sozialbehörden eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung be- oder sogar verhindert.

Dass die Entscheidung über eine medizinische Behandlung von AsylbewerberInnen nicht medizinischem Personal, sondern den Verwaltungsbeamt*innen des Sozialamtes obliegt, ist im besten Fall eine falsche Zuordnung von Kompetenzen, im schlimmsten ein Skandal. Fehlende fachliche Kompetenz und Unwissenheit über die Schwere und die gesundheitliche Beeinträchtigung durch die Erkrankung ebnen den Weg für systematische Willkür. In Bremen ist das Sozialamt einen anderen Weg gegangen – dort gibt es seit 2005 eine spezielle Gesundheitskarte für Asylbewerber*innen. Diese soll, anstelle der diskriminierenden Praxis der Krankenscheine, den PatientInnen eine menschenwürdige Grundversorgung möglichst nahe an der Regelversorgung bieten. Dies ist nicht gegen das Gesetz, sondern wird von folgenden Paragraphen gestützt.
Die rechtliche Grundlage zur Gesundheitsversorgung für Asylbewerberinnen spricht von “akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen” zu deren Versorgung “die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung (…) sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren.” (AsylBLG §4 Art. 1) Zahnersatz wird nur in Ausnahmefällen gewährt. Ergänzt wird dies durch Leistungen für werdende Mütter und Wöchnerinnen, sowie Schutzimpfungen und Vorsorgeuntersuchungen anhand des Leistungsumfanges der GKV (AsylBLG §4 Art. 2+3). Dies wird weiter durch nicht näher spezifizierte Leistungen, die im Einzelfall für die Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind, im AsylBLG Art. 6 erweitert. Der Gesetzgeber hat mit diesem Paragraphengewirr mehr oder weniger deutlich festgelegt, was abgerechnet werden soll, aber nicht von wem.

Die AOK Bremen/Bremerhaven erklärte sich nach Anfrage durch die Stadt Bremen bereit, die Krankenbehandlung von Asylbewerber*innen nach §264, Art. 1 SGB V zu übernehmen. Dieser Paragraph wiederum regelt die Übernahme der Gesundheitsversorgung von beschriebenen Personenkreisen (unter anderem Asylbewerber*innen) “sofern der Krankenkasse Ersatz der vollen Aufwendungen für den Einzelfall sowie eines angemessenen Teils ihrer Verwaltungskosten gewährleistet wird.” Es werden nun fast alle Leistungen nach GKV-Leistungskatalog übernommen – ausgenommen sind zum Beispiel künstliche Befruchtung und Leistungen nach DMP (Disease Management Program – Unterstützung für chronisch Kranke). Bei Zahnersatz, Psychotherapie, Vorsorgekuren und Rehamaßnahmen gilt ein Entscheidungsvorbehalt mit Begutachtung. Die Abrechnung erfolgt über die AOK, die dafür eine Pauschale vom Sozialamt erhält und ein eigenes Computerprogramm für die Betreuung der Asylbewerber*innen erstellte. Bis zum Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft gilt ein Ersatzverfahren, danach werden die Gesundheitskarten ausgestellt, mit denen die Asylbewerber*innen ohne den Umweg über das Sozialamt zum Arzt gehen können. Über eine Ziffer in der Versicherungsnummer sind sie weiterhin als Asylbewerber*innen zu erkennen, in der Praxis hat sich allerdings gezeigt, dass dieser Ziffer wenig Beachtung geschenkt wird und somit eine Annäherung an eine Gleichstellung mit Regelversicherten gewährleistet wird. Ein weiterer großer Vorteil ist, dass keine Stigmatisierung der Asylbewerber*innen mehr stattfindet und sie gesetzlich Versicherten eher gleichgestellt sind, was durch das System der Krankenscheine oft nicht gewährleistet ist. Durch die fehlende fachliche Kompetenz entscheiden die Mitarbeiter der Sozialbehörde oft zu Ungunsten der Patient*innen und gewähren Leistungen nicht, die ihnen nach oben aufgeführten Paragraphen zuständen, während diese Entscheidungsfrage sich beim Praxisbesuch oft nicht stellt. Zudem entfallen die diskriminierenden und teilweise entwürdigenden Begutachtungen durch Mitarbeiter*innen des Sozialamtes. Auch ein Mehraufwand für die Ärzt*innen ist nicht zu verzeichnen, eher berichteten diese über einen verringerten Verwaltungsaufwand, da kein zweigleisiges System mit Krankenscheinen gefahren werden muss. Darüber hinaus wird das Sozialamt deutlich entlastet, da der Verwaltungsaufwand für die Abrechnung größtenteils an die Krankenkasse ausgelagert, sowie Mitarbeiter in den Durchführungsämtern eingespart werden konnten. Nicht zuletzt entfällt die kostenpflichtige Prüfsoftware, während sich die Zahlungen für die Betreuung der Asylbewerber*innen an die AOK in einem moderaten Rahmen halten (10 Euro monatlich und einmalig 8 Euro für die Gesundheitskarte).

Auch von einem wirtschaftlichen Standpunkt macht eine Umstellung auf eine Gesundheitskarte für Asylbewerber*Innen Sinn, wie eine Studie von Wissenschaftlern der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg und der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld belegen konnte, die letzten Sommer veröffentlicht wurde. In dem untersuchten Zeitraum von 1994 bis 2013 waren die jährlichen Pro-Kopf Ausgaben für medizinische Versorgung bei Asylsuchenden, die bereits Anspruch auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung haben um circa 40 Prozent und damit 376 Euro niedriger, als bei Asylsuchenden mit nur eingeschränktem Zugang zur medizinischen Versorgung.

„Unsere Studie belegt, dass eine bundesweite Umsetzung des Bremer Modells – bei dem seit 2005 bürokratische Hürden zur Versorgung abgebaut wurden –  nicht zwingend mit Mehrkosten verbunden sein muss“, wird Ko-Autor Professor Dr. Oliver Razum, Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, auf der Website der Universitätsmedizin Heidelberg zitiert.

2012 wurde ein ähnlicher Vertrag mit der Hansestadt Hamburg getroffen. Bestrebungen eine Gesundheitskarte auch für Illegalisierte einzusetzen, die nach AsylBLG ebenfalls Anspruch auf die oben genannten Leistungen haben, scheitern im Moment am politischen (Un)Willen und fehlendem praktischen Umsetzungsvermögen, da sich unter anderem eine anonymisierte Abrechnung nicht gewährleisten lässt.

Probleme für die flächendeckende Umsetzung

Auch wenn die rechtliche Grundlage gesichert ist und die Gesundheitskarte für Asylbewerber*innen in der Praxis ein Erfolg zu sein scheint, ergeben sich für die flächendeckenden Umsetzung mehrere potentielle Probleme. Momentan gibt es keinen Mechanismus für eine Verpflichtung über einen Vertragsabschluss, weder auf Seiten der Kommunen noch auf den der Krankenkassen. Die Zuständigkeit für die Versorgung von Asylbewerber*innen liegt bei den Kommunen. Es ist für die Krankenkasse sowohl kompliziert als auch unattraktiv mit mehreren Kommunen unterschiedliche Verträge auszuhandeln, was nicht zuletzt einen zusätzlichen schwer abschätzbaren Verwaltungsaufwand bedeuten würde. Eine Möglichkeit wäre es, auf Landesinitiative hin Formverträge auszuarbeiten, die von verschiedenen Kommunen genutzt werden können, wodurch sich eine positive Sogwirkung entfaltet. Problematisch wäre hierbei die mögliche Untergrabung kommunaler Kompetenzen und der Entscheidungsfreiheit der Kommunen. Nicht zuletzt ist eine solche Entwicklung auch stark von der politischen Richtung des Landes abhängig. Im Moment wird in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe diskutiert, inwieweit man die Krankenkassen in die Pflicht nehmen kann, mit den Kommunen Verträge bezüglich der Gesundheitsversorgung von Asylbewerber*innen zu schließen, wenn die Kommunen dieses wünschen. Dies würde die Einführung des Bremer Modells auch für Flächenländer erleichtern, es bedeutet aber nicht, dass die gesetzlichen Grundlagen für die sofortige Umsetzung nicht schon bestehen und genutzt werden könnten.
Es wäre erstrebenswert, das Bremer Modell, so wie es ist oder in ähnlicher Form, flächendeckend in Deutschland umzusetzen, da es eine enorme Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Asylbewerber*innen darstellt. Nicht zuletzt hebt es die Fragmentierung der gesundheitlichen Versorgung durch die Krankenscheine auf und setzt allgemeingültige Standards durch. An dieser Stelle sollte man im Hinterkopf behalten, dass die Planung und Durchführung einer Krankenkassenkarte für Asylbewerber*innen in Bremen auf die Initiative des Leiters des Sozialamtes zurückgeht, desselben Amtes, das nun eine enorme Erleichterung ihres Verwaltungsaufwandes zu verzeichnen hat. Dass hier eine Arbeitserleichterung und die Verbesserung menschlicher Lebensumstände Hand in Hand gehen, ist ein hoffentlich auf andere Lebens- und Verwaltungsbereiche übertragbares Bild – nur Zyniker*innen würden hier nach der ursprünglich ausschlaggebenden Motivation fragen.
Es kann nicht sein, dass hohe Kosten für eine medizinische Behandlung, die ausdrücklich im Gesetz verankert ist, von ehrenamtlichen Organisationen bzw. durch Spendengeldern übernommen werden, wie es in dem anfangs beschriebenen Fall geschehen ist. Mit einer Gesundheitskarte für Asylbewerber*innen nach Bremer Modell wäre dies vielleicht besser gelaufen.

Nachtrag: Im Januar 2016 schloss die Landesregierung mit Vertretern der Krankenkassen Rahmenvereinbarungen, durch welche die Kostenerstattung für die Kassen geregelt werden sollen, die als Dienstleister für die Kommunen auftreten. Dieser können die Kommunen einzeln beitreten, wenn sie die elektronische Gesundheitskarte für Aslybewerber*Innen einführen wollen. Die Umsetzung scheitert momentan nach Angaben des SWRs an den hohen Verwaltungskosten, die für viele Kommunen der Grund ist, die Karte nicht einzuführen.

Antonia Neuberger
Medinetz Mainz e.V.
Sprechstunde im Caritas Zentrum delbrel
jeden Montag 18-20 Uhr
Aspeltstraße 10
55118 Mainz
info@medinetzmainz.de

Quellen:

Bozorgmehr, Kayvan/Razum, Oliver (2015): Effect of Restricting Access to Health Care on Health Expenditures among Asylum-Seekers and Refugees: A Quasi-Experimental Study in Germany, 1994–2013. URL: http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0131483 [28.04.2016].

Rübsam-Brodkorb, Doris (2015): Eingeschränkter Zugang zu medizinischer Versorgung bei Asylsuchenden ist teurer als die Regelversorgung. URL: https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/pressemitteilungen.136514.0.html?ifab_modus=detail&ifab_id=5217 [28.04.2016].

SWR (2016): Wohl keine Gesundheitskarte für Flüchtlinge. URL: http://www.swr.de/landesschau-aktuell/rp/verwaltungskosten-fuer-rp-kommunen-zu-hoch-wohl-keine-gesundheitskarte-fuer-fluechtlinge/-/id=1682/did=17087336/nid=1682/1jp0rqx/ [28.04.2016].

 

[/av_textblock]

[/av_two_third][av_social_share title=’Teile diesen Eintrag‘ style=“ buttons=“ share_facebook=“ share_twitter=“ share_pinterest=“ share_gplus=“ share_reddit=“ share_linkedin=“ share_tumblr=“ share_vk=“ share_mail=“][/av_social_share]